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6. Mit aller Vorsicht - einige Folgerungen

Im letzten Teil sollen einige Folgerungen aus den bisher hierher gewonnen Erkenntnissen gezogen werden. Was bedeutet es und wie ist es zu bewerten, daß das USENET als autopoietisches System faßbar ist?

6.1 Autopoiesis und weiter?

Unsere Suche nach einem sozialen System im Netz ist erfolgreich gewesen. Mit dem USENET wurde ein Gegenstand der systemtheoretischen Analyse zugänglich gemacht, der eine spezifische Ordnung für Kommunikationen schafft und diese Ordnung kommunikationsgestützt selbst organisiert. Das Frappierende am sozialen System USENET ist dabei, daß es weder ursprünglich im Rahmen des Internets entstand, noch sich auf das Internet begrenzen läßt. Und es handelt sich nicht etwa um eine im gesellschaftlichen Maßstab betrachtet kleine ,,Spielwiese" für Wissenschaftler und Computerinteressierte, auch wenn es so entstand. Das USENET wird weltweit von schätzungsweise mehr als einer Millionen Menschen aktiv benutzt, und die Zahl seiner Benutzer wächst mit der quantitativen Verbreitung der Internetnutzung. Aber auch die passiven Nur-Leser, sogenannte ,,Lurker", vermögen von ihm als komplex geordneten Informationsraum zu profitieren, und ihre Zahl ist äußerst schwer zu schätzen.

Daß die im USENET ablaufenden sozialen Prozesse die Form der Autopoiesis angenommen haben, dafür wurden hier einige Belege genannt. Der Wert des Autopoiesis-Konzept ist zuerst einmal ein heuristischer; indem die Analyse sich auf spezifische, mit dem Konzept verknüpfte Phänomene richtet, sollten wesentliche Merkmale des sozialen Systems USENET identifiziert und beschrieben werden. Der Erklärungswert liegt in der Verbindung dieser Merkmale zu einem Modell, aber auch in der Einbettung in eine Gesellschaftstheorie. Ist dieses Modell gültig und die Operationsweise des USENET tatsächlich autopoietisch, dann lassen sich daraus jedoch auch einige begründete Folgerungen ableiten:

- Das System läßt sich weder von außen steuern noch kontrollieren, jeder Eingriff der etwa auf inhaltliche Regulierung abzielt, wirkt sich im System nur als Störung aus. Höchstens eine Einflußnahme auf der inhaltsfernen Ebene der technischen Basis ist vorstellbar, d.h. eine Veränderung der strukturellen Kopplung zwischen Newsserver-Betreibern (also Organisationen) und dem System. Im Extremfall können Störungen oder Entzug der technischen Funktionsfähigkeit zu einer Zerstörung des Systems führen, aber dieser Fall erscheint unwahrscheinlich, berücksichtigt man die Veränderungen auf struktureller und technischer Ebene, die das USENET bereits hinter sich hat.

- Daß das USENET gesellschaftsweit (und Gesellschaft ist bei Luhmann, wie bereits erwähnt, Weltgesellschaft) spezifische Kommunikationsleistungen zu erbringen vermag und dies, wie es Merkmal von Internet-Kommunikationen ist, unter Aufhebung einer Reihe von Beschränkungen tut, denen diese bis vor kurzem unterlagen, all das macht es zum Anwärter auf die Erfüllung einer neuen gesellschaftlichen Funktion. Um nicht mißverstanden zu werden: Das soll nicht bedeuten, daß das USENET der Kern eines neuen, hier beschworenen gesellschaftlichen Funktionssystems ist, aber es ist in mancher Hinsicht ein experimentelles Modell dafür.

- Es bleibt noch die Frage nach seiner Skalierbarkeit. Selbst wenn die strukturelle Ausgestaltung des USENET untauglich für eine um Größenordnungen höhere Nutzerzahl als der bisherigen sein sollte (was sie vermutlich ist), dann macht es der autopoietische Prozeß doch wahrscheinlich, daß die evolutionäre Anpassungsfähigkeit ausreicht, um die Strukturen auch diesem Problem angemessen weiterzuentwickeln.

Das Internet bietet in erster Linie die Möglichkeit der Schaffung völlig neuer Verbreitungsmedien, deren soziale Reichweite im Gegensatz zu den traditionellen Verbreitungsmedien, wie Sprache, Schrift, Druck oder Rundfunk, völlig frei bestimmt werden kann. Das in Verbindung mit der erleichterten Nutzungsmöglichkeit für die Verbreitung von Kommunikationen führt zu einem riesigen Bedarf an Selektionen. Die einfachste Variante für die Festlegung eines Verbreitungsmodus und seiner Reichweite ist dabei die Abbildung der Funktionsweise der traditionellen Medien, wie sie meist der Ausdehnung der Aktivitäten von Organisationen des Massenmediensystems auf das Internet zugrundeliegt. Das USENET darf im Gegensatz hierzu als völlig neue Form eines Verbreitungsmediums gewertet werden, weil es selbst die soziale Reichweite seiner Kommunikationen reguliert, ohne sie jedoch festlegen zu können.

6.2. Fazit

Alle hier vorgenommenen Analysen wenden die Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann auf einer Reflexionsstufe an, die - wie ich hoffe - dem Gegenstand angemessen ist. Ebenso bewegt sich der Zugriff auf soziale Phänomene im Bereich des Internets auf der Ebene der Erfassung ihrer Funktionsweise, ohne diese weiter in Frage zu stellen. In beide Richtungen ist die hier vorgestellte Arbeit anschlußfähig, sowohl für weitere, tiefer ansetzende systemtheoretische Analysen, als auch für einen empirisch fundierten Zugriff. Gerade im Fall von frei zugänglichem, nahezu vollständig dokumentiertem und technisch leicht zu verarbeitendem Material, das das USENET über unterschiedlichste Arten von Kommunikationen und sozialen Differenzierungsprozessen bietet, möchte man empirische Sozialforscher am liebsten gleich zu Hauf anrücken sehen, um aus diesem so leicht zugänglichen Großexperiment ihre Folgerungen zu ziehen.135

Das USENET steht im Schatten des WWW, und alle weiteren Spekulationen über die Bedeutung und den Einfluß der Vernetzung auf unsere Gesellschaft im Schatten der Kommerzialisierungswelle, die in den Medien als ,,Internet-Hype"136 auftritt. Aber wo das WWW bisher nur den Anspruch der Allzugänglichkeit erheben kann, und das Setzen von Hyperlinks als sozial motivierte Strukturierungsleistung von schlichtweg Jedem zwar stattfindet, aber immer mehr hinter jene von Organisationen zurückzutreten scheint, ist dies alles im USENET realisiert. Es könnte dabei gut sein, daß die zur Zeit im Internet kondensierende soziale Eigendynamik im Zugriff der Funktionssysteme beim Versuch ihrer Nutzbarmachung zerrieben wird.

Den Verlautbarungen der in das Netz drängenden Organisationen nach ist dies zwar nicht gewollt, und es würde den Nutzwert des Netzes erheblich mindern, aber die Befürchtung ist dennoch begründet. Wenn Soziologen, so wie hier, sich mit dieser sozialen Dynamik befassen, dann sollten sie jedoch deren Stärken, Vorzüge und Eigenheiten aufzeigen, bevor die wild gewachsene Sozialität durch die für sie blinde Eigenlogik der anderen Funktionssysteme und der technischen Wissenschaften gerodet wird.

Wahrscheinlich hat Peter Fuchs recht, wenn er zu einem meinem nicht unähnlichem Projekt schreibt, daß es nicht um Techniksoziologie geht. ,,Es geht um weniger, aber damit auch um mehr".137 Natürlich vermag die massive Anwendung neuer technischer Errungenschaften die Gesellschaft zu verändern, und selbstverständlich ist die Soziologie ein wichtiger Ansprechpartner für die Frage nach der Art dieser Veränderung. Bisherige Antworten bescheiden sich oft mit einer Perspektive, die auf bewährte Erklärungsmuster zurückgreift. Auch wenn viele dieser Antworten unverzichtbar sind, so fehlt es doch an Projektionen auf der Grundlage der existenten Sozialität im Internet. Spekulativ ist diese Vorgehensweise nicht nur notwendigerweise, weil sie sich nicht auf gesichertes Wissen stützen kann, sondern auch weil sie dem Phänomen eine gesellschaftliche Bedeutung zuspricht, die es vielleicht gar nicht hat.

Man kann also in zwei Fallen tappen, wenn man als Soziologe vom Internet aus auf die Suche nach wichtigen Antworten auf Fragen mit zweifelhafter Bedeutung geht - aber das wäre allemal besser, als einfach nur den Lauf der Dinge abzuwarten und das Verschwinden sozialer Phänomene nur noch beklagen zu können.


135 Ein empirischer Ansatz (allerdings eines Psychologen) ist z.B.: Batinic, Bernard: Wieviele Menschen nutzen die NetNews in Deutschland. Im WWW am 30.6.97 unter http://www.psychol.uni-giessen.de/~Batinic/survey/anzahl.htm .

136 ,,the hype" steht kurz und polemisch für ein aufgebauschtes, nicht einlösbares Versprechen.

137 Fuchs 1997. Kap. Vorbemerkung.

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Steff Huber